4. Die Hygiene der Städte im Kampf gegen die Cholera

In Deutschland gab es zunächst keine Gelegenheit, die praktischen Lehren aus Robert Kochs Entdeckung des Cholera-Bakteriums bei der Bekämpfung eines Ausbruchs der Cholera in die Praxis zu übertragen. Ärzte und auch Politiker folgten somit weiterhin der Lehre Max von Pettenkofers, denn dessen „Bodentheorie“ setzte auf Vorbeugung. Seiner Theorie nach sollte die sanitäre Sanierung der Städte durch die Einführung einer Schwemmkanalisation und einer zentralen Wasserversorgung die Gefahr der Cholera aus dem „Boden“ nehmen.

Der stetig ansteigende Strom von Arbeitern und deren Familien in die Städte ließ nun neue Probleme entstehen: denn im gleichen Maße, wie die Industrie wuchs und die Bevölkerung zunahm, stieg auch der Wasserbedarf und als Folge die Menge an Abwasser. Während zeitgleich eine unsichtbare Stadt aus Versorgungsleitungen und Kanälen unter den Straßen entstand, setzte zudem verschärfend eine Transformation der Gesellschaft ein: das neue und moralisch begründete soziale Verhalten der Reinigung, des Waschens und des sauberen Hauses schufen eine fast schon „erfundene“ häusliche Sauberkeit.

Dazu kam das immense Problem der Menge der Fäkalien, die die Bewohner der wachsenden Städte produzierten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Fäkalien in der Stadt gesammelt und abgefahren. Noch 1906 wurde beispielhaft aus der Stadt Krefeld im Rheinland vermeldet: „Die Fäkalien werden zurzeit in Gruben gesammelt und nach Be­darf vermittels pneumatischer Hebung in wasser- und gasdichte Förder­wagen übergepumpt und zur landwirtschaftlichen Ausnutzung abgefahren.“

Diese gängige Methode der Städtereinigung kam an ihre quantitativen Grenzen und zusätzlich nahm das Streben nach häuslicher Sauberkeit zu und paarte sich mit einer diffusen Angst der Bevölkerung vor Infektionen wie der Cholera. In den Debatten ging es um viele Fragen der Hygiene, aber insbesondere auch um die Frage, ob die technische Errungenschaft des Wasserklosetts an die Schwemmkanalisation angeschlossen werden dürfe. In Ratssitzungen, Ausschüssen, Vereinssitzungen, Gutachten und eigens gebildeten Kommissionen wurde über den daraus entstehenden Begriff der „Städtereinigungsfrage“ diskutiert und in erheblichem Umfang auch publiziert.

Die Städtereinigungsfrage

Zwei diametrale Lager bildeten sich in der Städtereinigungsfrage heraus:

  • Die „Kanalisationbefürworter“ fanden im „deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege“ ihre institutionelle Vertretung.
  • Die „Kanalisationsgegner“, die die herkömmliche Art der Abfuhr der Fäkalien favorisierten, gründeten 1877 in Köln den „Internationalen Verein gegen Verunreinigung der Flüsse, des Bodens und der Luft“. Sie hatten Angst vor dem Verlust von menschlichem Dung für die Landwirtschaft und befürchteten in der Folge auch Wohlstandsverluste.

Für die Städte, die die „moderne“ Schwemmkanalisation immer noch nicht eingeführt hatten, entstand immer mehr Handlungsbedarf. Aus dem chemischen Laboratorium für praktische Hygiene in Hamburg berichtete Dr. Krohnke in „Die Gesundheit XXIV 1901“:

„Von den modernen gesundheitstechnischen Hauseinrichtungen haben sich die Spülaborte (Wasserklosets) am schnellsten bei uns eingeführt und dürfen heute wohl schon — allgemein gesprochen — als ein Bedürfnis für das Wohlbehagen in unseren Wohnstätten gelten.“

Diese modernen Toiletten waren bereits in großer Zahl – zumindest als Überlauf von Senkgruben – defakto an die Kanalisation angeschlossen worden. Der Kölner Stadtbaurat Steuernagel schrieb 1898 in einer Festschrift rückblickend:

„Obschon die Einführung von Fäkalien in die Kanäle untersagt war, bestand eine große Anzahl derartiger Anschlüsse von Alters her.“

Kommunen und Regierung mussten sich zur Städtereinigungsfrage äußern und Gesetze erlassen. Die Befürworter der „Schwemmkanalisation“ hatten sich grundsätzlich durchgesetzt. Die Abwassereinleitung wurde fast uneingeschränkt erlaubt. Mit diesen Entscheidungen wurde erstmals das Einleiten von kommunalen Abwässern in Flüsse ausdrücklich zugelassen, die Städte konnten sich damit von ihren Fäkalien durch den Strom des Abwassers in der Schwemmkanalisation befreien, die „Stadtreinigungsfrage“ war, zumindest politisch, gelöst. Das Resultat war das Verschwinden, Wegspülen von hygienischen Problemen in die unterirdischen, hochtechnischen Systeme. Das bis heute unsichtbare hydrologische Netz entstand.